Aufklärer wider den Ungeist

Am 11. Oktober 2015 verstarb der Jugendliteraturforscher
Rüdiger Steinlein. 

Er war seit 1994 Mitglied im Arbeitskreis für
Jugendliteratur.

Unerwartet ist Prof. Dr. Rüdiger Steinlein mit 72 Jahren in Berlin gestorben – was für eine bestürzende Nachricht, was für ein Verlust für die Kinder- und Jugendliteraturforschung, zu deren Wegbereitern er gehörte und für die er insbesondere mit seinen historischen und zeitgeschichtlichen Studien grundlegende Beiträge geliefert hat.

In seiner Habilitationsschrift mit dem prägnanten Titel Die domestizierte Phantasie (1987) unterzog er Kinderliteratur und Kinderlektüre des 18. wie 19. Jahrhunderts einer profunden Untersuchung und verschränkte literaturpädagogischen Theorien mit lektürebiografischen Passagen aus Autobiografien und autobiografiegestützten Romanen des Untersuchungszeitraums. Mit dieser Arbeit entwarf Steinlein eine „Phänomenologie kindlicher Lektürelust“ unter diskurstheoretischen und psychoanalytisch fundierten Implikationen. Seine Untersuchung eröffnete das bislang wenig erschlossene Feld für die historische Kinder- und Jugendliteraturforschung, insbesondere auch hinsichtlich der Lesesozialisations- und Rezeptionsgeschichte.

 

Seit 1993 lehrte Rüdiger Steinlein an der Humboldt Universität zu Berlin und fokussierte seine Arbeiten auf die Kinder- und Jugendliteraturforschung. Als Kenner der frühen Epochen deutscher Literaturgeschichte und ihrer Textkorpora legte er grundlegende Beiträge zu den Volksmärchen vor; die Arbeiten der Gebrüder Grimm standen hierbei im Mittelpunkt (Märchen als poetische Erziehungsform. Zum kinderliterarischen Status der Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen, 1994).

Steinleins historisches Interesse war gespeist von seiner Haltung als Aufklärer wider den Ungeist jedweder nationaler menschenverachtender Ideologeme. 1943 geboren, verstand er sich als Angehöriger einer Generation, die Zeugschaft über die Verbrechen und Zusammenhänge dieser Epoche abzulegen hatte. Diese Haltung leitete seine lebenslange Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und Holocaust an und begründete seinen Schwerpunkt der Erforschung von Darstellungsformen dieses Themenkomplexes in der Kinder- und Jugendliteratur. Der Titel eines einschlägigen Ausstellungsprojektes „Ehe alles Legende wird“ (1995) bezeichnet trefflich den unter erinnerungskultureller Perspektive bedeutsamen Forschungsschwerpunkt.

Seine Expertise bezüglich geschichts- und zeitgeschichtlicher Kinder- und Jugendliteratur stärkte die Kinder- und Jugendliteratur in ihrer historischen Ausrichtung und führte bis in die jüngste Vergangenheit. So konnte in einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR nachgezeichnet, historisch konturiert und kulturpolitisch wie literaturästhetisch strukturierend zur Darstellung gebracht werden. Aus dem Forschungsvorhaben ging das Handbuch der Kinder- und Jugendliteratur der SBZ und DDR (2006) als ein Teilband der chronologisch angelegten Reihe hervor. Dieses Grundlagenwerk, das unter Steinleins Leitung erstellt wurde, ermöglicht, Kinder- und Jugendliteratur der DDR als Textkorpus deutscher Literaturgeschichte weiter zu erschließen und in den hier aufgestellten Forschungskontexten und -spektren auszudifferenzieren.

Ebenso zur Erschließung des Kultursystems der DDR zählt das Forschungsprojekt zur Programmgeschichte des DDR-Fernsehens, das als Teilprojekt zu Literaturverfilmungen der DDR unter Steinleins Leitung durchgeführt wurde. Schließlich sei noch sein Faible für Komik und komisches Erzählen genannt. Als gebürtigem Münchner lag ihm Valentin’scher Humor, den er auch gerne selbst zum Besten gab. Seine Affinität zu Humorinszenierungen veranlasste verschiedene Arbeiten, die sich spezifisch auch mit kinderliterarischem Lachen befassten.

Als Herausgeber der renommierten Reihe Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien, in der maßgebliche Diskurse abgelichtet werden, konturierte er aktuelle Forschungsfragen. Sein vielfältiges Engagement in Forschergruppen sei nur mit seiner aktiven Mitgliedschaft in der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung benannt. Das Wort auch in aktuellen Diskussionen zu ergreifen und im Literaturbetrieb mitzuwirken, waren ihm ein Anliegen; hier zu nennen wären seine verschiedenen langjährige Tätigkeiten als Juror, sei es bei der Stiftung Preußische Seehandlung in Berlin oder in der Sonderpreisjury des Deutschen Jugendliteraturpreises.

Mit seiner Abschiedsvorlesung „Die Lust am komischen Text“ beendete er 2009 auf humorvolle Weise seine universitäre Arbeit und hatte zugleich weiter große Pläne. So wurde er schriftstellerisch tätig und widmete seine Texte vor allen den Kleinen. Er verfasste Kinderkriminalromane, die er Lena, seiner ersten Enkeltochter, gewidmet hat. Auch dieses Interesse zeigt Steinlein als generationsübergreifenden Erzählenden. – Viel zu früh wurde Rüdiger Steinlein aus dem Leben gerissen. Wir werden ihn alle sehr vermissen, seine vielgestaltigen Werke aber erlauben es künftigen (Forscher-)Generationen, weiter von seinen Arbeiten zu profitieren und diese fortzuführen.

Prof. Dr. Caroline Roeder

Der Nachruf erscheint in JuLit 4/2015. Wir danken für die Möglichkeit des Vorabdrucks.

Abbildung: Rüdiger Steinlein bei der Verleihung des Sonderpreises des Deutschen Jugendliteraturpreises 2004 an Benno Pludra, Foto © AKJ / Jochen Günther